Verbindung und Grenzen

 

Warum spielt das Thema "Verbindung und Grenzen" nicht nur in der therapeutischen Arbeit, Persönlichkeitsentwicklung und Selbsterfahrung eine so große Rolle und warum gehören die vielleicht gegensätzlich erscheinenden Begriffe zusammen?

 

Um sich in sich selbst oder mit seinen Mitmenschen wohl zu fühlen, braucht es zu einem gewissen Grad einen stimmigen Kontakt zu sich selbst. Zu den eigenen Gefühlen, dem Körper, den Gedanken und seinem eigenen Handeln. Wenn dieser Kontakt nicht oder nur teilweise gegeben ist, fühlt man sich unverbunden.  Mit nicht - oder nur teilweise - gegebenen Kontakt meine ich hier, nicht bewusst mitzubekommen, wie ich mich fühle, meinen Körper spüre, meine Gedanken erlebe und unachtsam-träumerisch handele. Oft ist das begleitet von Empfindungen der Unsicherheit, des Unwohlseins, von Unfokussiertheit, Unruhe bis hin zu Angst und Hilflosigkeit. 

 

Man erlebt in seinem Empfinden also sehr deutlich, ob und wie tief man gerade mit sich verbunden ist, sprich bei sich ist. Auch im Außen in der Begegnung mit unseren Mitmenschen spiegelt sich das dann wieder. Umso weniger ich mich im Kontakt mit mir selbst erlebe, desto weniger tief kann ich in Kontakt mit meinem Gegenüber treten. 

 

Aber was hat das mit den individuellen Grenzen zu tun? Wir erleben uns in verschiedenen Aspekten. Wie oben schon beschrieben in unseren Gefühlen, Gedanken, unserem Körper und vielem Anderen. Wir können also Teile von uns als voneinander abgegrenzt erleben. Das scheint auch wichtig zu sein, damit wir uns differenziert und auch in einer gewissen Struktur wahrnehmen können. Es führt zu einer gewissen inneren Ordnung, damit wir uns auf Verstandesebene besser nachvollziehen können. Der Verstand braucht Struktur, da wir sonst wahrscheinlich verrückt werden würden. Gleichzeitig hängen all diese separierten Aspekte eng miteinander zusammen. Im gesamten menschlichen Erleben sind sie Eins, und zwar in Form des menschlichen Daseins. Der Körper allein, ohne Gefühle, Gedanken, Verstand und Seele, kann nicht existieren. Wir brauchen also einerseits ein Erleben von Verbundenheit in unseren unterschiedlichen Aspekten und andererseits die Möglichkeit des differenzierten Erlebens, um uns als Struktur wahrnehmen zu können. Wir nehmen uns also verbunden und abgegrenzt zu gleich wahr.

 

Ein Beispiel: Wenn dich jemand verbal angreift, also in deinen persönlichen Raum ungefragt eintritt, fühlst du dich wahrscheinlich bedrängt, bedroht, verängstigt, verärgert oder auf andere Art und Weise gestört. Derjenige überschreitet also ungefragt deine persönliche Grenze. Auf Beziehungsebene führt das zwischen euch zu Trennung (also nicht zu Verbindung). Wenn du nun für deinen verletzten oder angegriffenen persönlichen Raum einstehst, sagst du zum Beispiel sowas wie: "Stopp, das geht mir zu weit." oder "Ich möchte nicht, dass du so mit mir sprichst. Wenn du mir was mitteilen möchtest, tue das bitte ruhig." Das ist ein Akt der Selbstliebe und -fürsorge, welcher respektvoll Grenzen setzt, in dir Verbindung schafft und gleichzeitig zu einem Angebot für Verbindung wird. Dein Gegenüber erkennt im Idealfall das Angebot, entschuldigt sich und spricht ruhig mit dir. Was ist also in der Situation auf Beziehungsebene passiert? Du hast Grenzüberschreitung mitbekommen (wahrgenommen), hast freundlich und respektvoll auf sie reagiert, einen neuen Begegnungsraum für dich selbst und dein Gegenüber geschaffen, Achtung für deine Verletzung erfahren und Verbindung konnte entstehen. Man kann dieses Beispiel auf jegliche Situation im Leben, sei es mit sich selbst allein oder mit anderen, projizieren und man wird immer sehen, dass Verbindung und Grenzen zwei Begriffe, aber ein Thema sind.

 

Wenn du über deine eigenen Grenzen gehst, z.B. indem zu viel arbeitest, ohne Pausen zu machen, geht es dir danach oder schon dabei in irgendeiner Weise schlecht. Vielleicht fühlst du dich abgeschlagen, zerstreut, müde oder gereizt. Meist gibt es vor diesen Empfindungen schon zartere Signale, die dich auf deine eigene Grenzüberschreitung aufmerksam machen möchten. Dein Empfinden zeigt dir also auf, dass etwas nicht stimmt. Wenn du dir dessen bewusst wirst und dir Zeit für deine Empfindungen nimmst, dir deiner Grenzen gewahr wirst und Pausen machst, wird sich dein System wieder beruhigen. Diese wiedergewonnene Ruhe im Körper entsteht durch die Verbindung, die du zu dir selbst eingehst. Wenn du dir also Zeit nimmst, dich bewusst wahrzunehmen, gehst du in tieferen Kontakt mit dir selbst und Verbindung entsteht. Hingegen verlierst du die Verbindung Stück für Stück, wenn du zu lange arbeitender Weise auf den Bildschirm schaust, deine Atmung und Gefühle nicht mehr bewusst spürst und somit über dich selbst hinweggehst, bzw. über deine eigenen Grenzen gehst.

 

Mein Tipp: Nimm dir den Tag über regelmäßig Zeit, kurz oder länger innezuhalten. Oft reichen schon 5-Minuten-Inseln des Innehaltens. Tue nichts dabei, außer deine Aufmerksamkeit und Wahrnehmung auf dich in deinem Körper zu lenken. Versuche, nichts von dem Wahrgenommenen zu verändern. Wenn dein Verstand das Wahrgenommene verstehen möchte, bekomme das bewusst mit und kehre ganz zurück in die Körperwahrnehmung. Umso öfter du das in deinem Alltag praktizierst, desto eher wirst du automatisch in dir präsent bleiben, verbunden sein und deine Grenzen wahrnehmen. Du wirst dich ruhiger und ausgeglichener fühlen und feiner mitbekommen, wie es ist dir eigentlich gerade geht.