Welche Rolle spielen diese weichen „Seiten“ in unserem Leben und kann man sie überhaupt als „Seiten“ bezeichnen? Was bedeutet es überhaupt im Alltagsleben verletzlich zu sein?
Ich kam mit meiner sensiblen Verletzlichkeit meistens wenn überhaupt in tieferen Kontakt , wenn ich mir bewusst Zeit dafür genommen habe. Und selbst dann war ein direkter Kontakt oft nicht möglich. Heute merke ich wie sie überall in meinem Leben immer öfter seicht zum Vorschein kommt. Ich bewege mich weicher, oder merke wie ich verständnisvoller auf Andersartigkeit schaue. Aber das bewusste Zeitnehmen braucht es nach wie vor.
Ich stoppe meine Aktivitäten, suche mir ein Plätzchen zum Sitzen und richte meine Aufmerksamkeit nach innen. Neugierig schaue ich nach innen wie ein Kind, und den gleichen Ausdruck bekommen meine Augen. Als kleines Kind war ich immer offen und verletzlich bis die Verletzungen zu groß wurden. Aber noch heute ist dieses kindliche schauen auf mich selbst, auf das heutige erwachsene Kind, der direkte Zugang zu dieser Weichheit. Zu dieser Verletzlichkeit. Diesem Liebevollen, Entzückenden, Neugierigen, in seiner natürlichen Naivität immer vom Guten Ausgehenden. Sofort wird es ruhig in mir. Ein Gefühl des Widersehens und der Verbindung breitet sich aus, und könnte von den Worten „Schön, dass du wieder vorbeischaust. Ich habe mich nach dir gesehnt!“, begleitet sein. Hier war und scheint immer noch alles gut zu sein.
Man braucht nicht groß darüber nachzusinnen, um zu merken wie gut und wichtig es ist so mit sich regelmäßig in Kontakt zu sein. Es macht sich einfach eine wohlig-warme, gefühlvolle, achtsame Stimmung in einem breit, die jede Zelle mit dem versorgt was sie braucht. Eine Kraft in diesem Leben hat die Eigenschaft auf uns alle in dieser oder ähnlicher Form zu wirken. Und das ist die Liebe.
Unsere sensible Verletzlichkeit kann also der direkte Zugang zu dir selbst im Herzen sein. Ich denke, dass all unsere Entscheidungen, Handlungen und Formen des Ausdrucks erst richtig in Entfaltung kommen, wenn sie aus diesem inneren Raum genährt sind. Warum fällt es uns dann oft so schwer so mit uns im Alltag in Kontakt zu treten und zu bleiben?
Der Alltag ist schnell. Schnelligkeit hat oft was Hartes, Aggressives. Aufgaben und Anforderungen wollen was von uns. Wir müssen vorrankommen und fertig werden, um das nächste in Angriff zu nehmen. Das sind Qualitäten, die die/den Kleine/n in uns schnell verschrecken können. Das ist alles in unserer Kindheit hunderte Male passiert. Über uns wurde entschieden, wir wurden nicht gehört, man hat uns nicht gefühlt, über uns wurde hinweggesprochen. Der Alltag hatte oft, und hat heute noch immer oft nur wenig Platz für das Kindliche.
Als sensibles, verletzliches Kind muss man sich dann Jahr um Jahr mehr in Sicherheit bringen. Was sollen wir auch tun, wenn es draußen so stürmisch, schnell und grob zu sich geht. Wir lernen ein dickeres Fell zu bekommen. Die Gesichtszüge werden ernster und das sonnige Strahlen des lächelnden Kindes lässt sich immer seltener blicken. Das weiche Gefühl tritt mehr und mehr in den Hintergrund, oder sollte ich besser sagen Untergrund!? Um es kurz zu sagen, wir ziehen uns mit unserer unberührten Kindlichkeit in die tiefen unseres Seins zurück und schichten Schale um Schale und Maske um Maske darüber, um den Sturm zu überleben, der, wie man uns sagt, das Leben ist.
Es kann viele Jahre dauern, um sich durch diese festen Schichten zurück zu der/dem zu graben, die/der man einmal war. Heute sage ich, dass jeder verpasste Moment, den ich ohne Kontakt mit mir in meiner Verletzlichkeit verbringe, ein nicht so lebendiger, ein nicht so liebevoller und auch ein nicht so echter ist, wie wenn der Kleine in mir durch meine Augen schaut und das Wunder der Welt beobachtet. Vielleicht sind es sogar alles Momente, die nicht wirklich gelebt sind.
Wenn ich das früher gewusst hätte, hätte ich sehr viel früher angefangen mich regelmäßig hinzusetzen und inne zu halten. Ich hätte auf vieles verzichtet und mich für anderes entschieden. Ich wäre sehr viel früher achtsam mit mir umgegangen. Heute gebe ich dieses vermeintliche Wissen an meine kleine Tochter weiter, damit sie hoffentlich später mal nicht ganz so tief graben muss, um sich zu erinnern.
Mein Fazit für heute: In jedem Moment kann ich mich entscheiden wieviel Aufmerksamkeit ich mir nach innen schenken möchte. Wenn ich morgen früh aufwache ist wieder ein Tag verstrichen, an dem meine Kinderaugen das Wunder vielleicht nicht gesehen haben,. Und die Tage des Lebens sind knapp bemessen. Besonders wenn sie Glückliche sind gehen sie doppelt so schnell vorbei. Heute bin ich 40, vielleicht ist die Hälfte rum, und ich habe noch eine ganze Hälfte um Teil des Wunders zu sein.